„Vor langer, langer Zeit ...“
„Weiter“, rief Alvin.
„Als vor uralten Zeiten ...“
„Weiter.“ Alvin wusste genau, welches Märchen er hören wollte, und so rief er „weiter“, bis die Stimme mit „Es war einmal in grauer Vorzeit, als die Erde noch ein blauer Planet genannt wurde ...“
begann.
Zufrieden kuschelte er sich in sein Kissen, zog die Bettdecke bis zum Kinn und starrte auf den Bildschirm an der gegenüberliegenden Wand. Endlich tauchte dort die blauweiße Kugel vor schwarzem
Hintergrund auf. Er liebte dieses Bild. Dieses und die nächsten, die noch kamen: Urwälder, exotische Tiere, Wasserfälle. Beim Meeresrauschen schlief er ein und träumte, dass er auf einem wilden Tiger
über den Sandstrand ritt.
„Aufstehen, heute ist doch Gruppenunterricht-Tag in der Schule.“
Verschlafen rieb Alvin sich die Augen. Seine Mutter hatte sich über ihn gebeugt und drückte heftig in die Knöpfe ihres Handcomputers.
„Beeil dich, ich muss heute früher weg. Ich habe gerade ein Fahrzeug für acht Uhr bestellt.“
„Aber Mam, kann ich nicht alleine fahren? Ich muss doch erst um neun in der Schule sein.“
„Zwei Fahrzeuge, nur damit du eine Stunde länger hier herumtrödeln kannst? Du weißt, wir haben unser Transportkontingent für diesen Monat schon fast ausgeschöpft. Und du wolltest heute Nachmittag
noch in den Bücherpavillon. Es sei denn, du verzichtest darauf.“
„Nein, ganz bestimmt nicht.“ Alvin sprang mit einem Satz aus dem Bett und saß fünf Minuten später an der Frühstücksbar. Nachdem er sein Müsli gemixt und Saft aus dem Automaten gezapft hatte, schaute
er aus dem Fenster. Ein leichter Wind wirbelte rötlichen Lehmstaub auf. Die schroffen Abhänge der nahe gelegenen Felsenkette standen dunkel vor bleiernem Himmel. Jeden Tag das gleiche Bild.
„Du träumst mal wieder, Alvin. Es ist fünf vor acht. Du weißt, der Wagen wartet nur zehn Minuten, dann fährt er zurück zum Fahrzeug-Pool und wir müssen trotzdem zahlen.“
„Oh ... natürlich.“ Alvin stürzte seinen Saft hinunter. Er wollte auf keinen Fall seinen Besuch im Bücherpavillon riskieren. Dann verfiel seine Eintrittskarte, die er von Professor Kalonymos als
Belohnung für seinen Vortrag über den Wasserkreislauf erhalten hatte. Und wer weiß, wann dann die nächste Gelegenheit zu so einem Besuch kam.
Seiner Mutter bedeutete das nichts. „Du hast genügend elektronische Bücher“, sagte sie ständig, und „in den Papierbüchern steht immer nur eine Geschichte, so eine Verschwendung.“
Als sie im Fahrzeug saßen, tippte seine Mutter zuerst „Schule“ und dann „Krankenhaus“ in den Bordcomputer.
„Was macht ihr heute?“, wandte sie sich an Alvin, während der Wagen anfuhr.
„Professor Kalonymos will mit uns einen Naturgarten anlegen.“
„In der Schule?“
„Draußen, gleich neben der Sportanlage.“
„Bekommt er denn dafür zusätzliches Wasser?“
„Er will uns zeigen, wie man natürliche Wasserspeicher nutzt, und ...“
„Ach Kind, der alte Kalonymos war ja schon immer ein bisschen spinnert, aber dass er jetzt für so ein Projekt die Erlaubnis bekommt ... Du glaubst doch nicht etwa, dass das irgendeine Aussicht auf
Erfolg hat?“
„Aber irgendwie muss es doch gehen. Früher ...“
„Nichts früher. Alles Märchen, ..."
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