Diese Tür zu öffnen war ihm strengstens verboten. Ohne Ausnahme. Und wie um dem Verbot Nachdruck zu verleihen, war die Tür stets abgeschlossen.
Heute stand sie offen.
Benni starrte auf den schmalen Spalt, der einen begrenzten Blick in das Innere des verbotenen Schrankes gewährte. Weiße Papierstapel schimmerten ihm entgegen. Die Lösung seines Problems.
Wie ein Geschenk und zum Greifen nah.
Sein Vater war längst in der Schule. War davon gehastet und hatte vergessen die Türe zu schließen. Ein aufgeschlagener Ordner mit geöffneten Ringen sowie einige lose Dokumente auf dem Schreibtisch
erzählten von der Eile des Vaters, der heute ausnahmsweise noch einmal zurückgekommen war, da er etwas Wichtiges vergessen hatte. Ausgerechnet heute, da Lehrerkonferenz war.
Sein Vater hasste Unpünktlichkeit.
Die Mutter war einkaufen. Es würde etwas länger dauern, bis sie zurück kam, denn sie wollte nach dem Supermarkt noch zur Apotheke. Ein paar Medikamente für Benni besorgen. Denn Benni war krank. Seit
zwei Tagen quälten ihn Magen-Darm-Beschwerden. Doch die Lösung seiner Magen-Darm-Grippe lag nicht in irgendwelchen Medikamenten, sondern hier in diesem Schrank.
Dass der Erreger seiner Beschwerden kein Virus war, sondern ein Mitschüler, hatte Benni wohlweislich verschwiegen. Nicht auszudenken, was sein Vater in der Schule für eine Wirbel veranstaltet hätte.
Nein, einen Lehrer als Vater zu haben, der sich in alles einmischte, machte die Sache nicht einfacher.
Oder doch?
Immerhin hatte Benni nun Zugang zu den gewünschten Papieren. Den Matheaufgaben für die Klasse 9a; die Klasse in die Niclas ging.
Niclas war groß, kräftig und niemand legte sich gerne mit ihm an, denn er war auch nicht zimperlich, wenn er seine Interessen durchsetzten wollte. Da er zudem ein
gefährlicher Torjäger beim Fußball war, wollten seine Mitschüler ihn lieber zum Freund als zum Feind haben.
Benni, der nicht zuletzt wegen seiner schmächtigen Figur, körperlichen Auseinandersetzungen gerne aus dem Weg ging, war froh, wenn Niclas ihn mit Nichtbeachtung strafte. Doch nun drohte Niclas wegen
Mathe durchzufallen und Benni rückte in den Mittelpunkt seines Interesses. Unter Androhung von Schlägen, hatte er versucht von Benni Tipps für die nächsten Prüfungsaufgaben zu bekommen. Doch
dieser hatte keine Ahnung, was für Aufgaben sein Vater sich erdacht hatte. Die lagen fest verschlossen samt Lösungen im verbotenen Schrank. Und der war ja immer abgeschlossen.
Dann kam der letzte Montag, an dem Benni allein im Zimmer der Biologie-Materialsammlung gewesen war. Er interessierte sich sehr für die Naturwissenschaften. Deshalb hatte er sich freiwillig gemeldet,
die Materialsammlung in Ordnung zu halten. Begeistert hatte er mit Professor Schill die Präparate der Spinnentiere sortiert. Dabei hatte es ihm vor allem der kleine Bücherskorpion angetan. Ein
nützliches Tier für Bücherfreunde, denn er fraß nicht die Bücher, sondern die Staubläuse, welche die alte Bücher zerstören konnten. Der kleine Pseudoskorpion namens Chelifer cancroides war in einer
großen Glasbox untergebracht und wann immer Benni ihn betrachtete, stellte er sich vor wie Hunderte, nein Tausende, dieser Tierchen in den Bibliotheken die Bücher von Staubläusen befreiten.
Professor Schill war für eine Woche verreist und Benni hatte sich den Schlüssel von der Sekretärin besorgt. Er hatte ein paar Fotos von Zitterspinnen auf vorbereitete Textvorlagen geklebt und dann in
den passenden Ordner sortiert. Als er den Ordner zurück ins Regal stellte, hörte er hinter sich ein Geräusch. Irritiert drehte er sich um. In der Tür stand Niclas. Breit grinsend.
„Bis Freitag brauche ich die Aufgaben.“
„Ich kann Dir aber nicht helfen.“
„Wetten das?“ Niclas öffnete seine rechte Hand. Zum Vorschein kam Chelifer cancroides. Der Bücherskorpion.
„Was soll das? Gib den sofort wieder her!“
„Was glaubst du wohl, wen man verdächtigt, wenn er fehlt? Mich hat niemand gesehen. Ich bin offiziell bei Max zum Lernen. Er ist mein Zeuge!“ Niclas schob die Glasbox in seine Jackentasche. „Also
dann. Wenn Du mir die Lösungen bringst, bekommst Du Deinen Freund wieder.“
Niclas drehte sich um und verschwand.
Viele Minuten verstrichen bis Benni sich wieder rühren konnte. Wie er es auch drehte und wendete, er sah keine Chance, seinen Mitschüler des Diebstahls zu
beschuldigen. Jetzt um diese Uhrzeit, war außer der Sekretärin und der Klasse, die Nachmittags Sport hatte, niemand in der Schule. Wenn Niclas nicht gesehen werden wollte, war es keine Kunst, das zu
verhindern.
Am Abend wurde Benni übel. Am nächsten Tag meldete die Mutter ihn krank.
Langsam ging Benni in das Arbeitszimmer seines Vaters. Eigentlich hatte er einfach einen Stift holen wollen. Doch jetzt hatte er nur noch Augen für den geöffneten Schrank.
Auf dem Portal von Andreas Mettler "Kurzgeschichten Storys"
kann die komplette Geschichte gelesen werden.
Und viele andere mehr.